„Brauchen wir wirklich“
Ein Experte warnt vor der dramatischen Untererfassung eines Missstandes an deutschen Schulen. „Kann das gut gehen?“, fragt sich eine Mutter.
Hamburg – „Aufstehen, schon 45! Kind: Oh nee Mama, hab doch die ersten beiden Entfall“: Die Situation, die eine Unternehmerin und Mutter in einem Beitrag auf Linkedin beschreibt, kennen viele Eltern. In Hamburg sind im vergangenen Schuljahr 166.370 Unterrichtsstunden ersatzlos ausgefallen (1,5 Prozent). Für weitere acht Prozent gab es Vertretungsunterricht. Damit fand fast jede zehnte Stunde nicht planmäßig statt. Das geht aus der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion zum Unterrichtsausfall in Hamburg hervor.
„Wenn das Kind dann schön in seinem Bett weiter schlummert, erschleicht sich Unbehagen bei den Eltern“, schreibt die Mutter auf Linkedin. „Kann das gut gehen? So viel Entfall?“ In anderen Bundesländern fehlen solche Zahlen wie in Hamburg, weiß Ulf Rödde von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Unterrichtsausfall werde systematisch untererfasst, „weil eine ‚irgendwie‘ vertretene Unterrichtsstunde eben nicht als eine ausgefallene Stunde gezählt wird“, sagt er BuzzFeed News Deutschland von Ippen.Media.
In allen ostdeutschen Bundesländer einschließlich Berlin und in den nicht-gymnasialen Bildungsgänge der Sekundarstufe I bundesweit werde aufgrund des hohen Lehrkräftemangels „oft schon im Voraus die Stundentafel gekürzt“, sagt Rödde. Besonders häufig treffe das die sogenannten „Nebenfächer“ wie Musik und Kunst, Sport und Ethik, aber teilweise auch Naturwissenschaften. „Auch die auf diesem Wege weggefallenen Stunden zählen in der ‚Unterrichtsausfall‘-Statistik nicht mit“, kritisiert der Gewerkschaftsvertreter.
Neue Regeln der Bundesländer verschärfen die Situation an Schulen
Die ausgefallenen ersten zwei Stunden Mathe entstehen nicht nur durch eine Erkältung der Lehrkraft, sie zeigen auch die zunehmenden Belastungen für Lehrkräfte. Eine aktuelle Studie der Universität Göttingen zeigt, dass die Mehrheit der Lehrkräfte sich im Bereich erhöhter Gesundheitsrisiken befindet. Laut Rödde nur die neueste in einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Studien, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. „Die Ergebnisse sind seit Jahren ähnlich: Überlange Arbeitstage in den Schulwochen, fehlende Pausen und fehlende freie Wochenenden sowie ein überdurchschnittliches Maß an ‚Präsentismus‘, das heißt, dass Lehrkräfte krank zur Arbeit gehen“, sagt er.
Die Situation verschärft sich durch politische Entscheidungen. Mehrere Bundesländer wie Bremen und Sachsen hätten neue Regeln eingeführt, die Lehrer noch mehr belasten. Früher bekamen ältere Lehrer weniger Unterrichtsstunden. Auch wer extra Aufgaben übernahm, musste dafür weniger unterrichten. Diese Erleichterungen haben die Länder abgeschafft. „Solche Maßnahmen mögen zwar kurzfristig helfen, die ärgsten Löcher zu stopfen, aber mittelfristig sind sie kontraproduktiv, da sie der Attraktivität des Berufes schaden und höhere Krankenstände nach sich ziehen. Mit anderen Worten: den Lehrkräftemangel verschärfen“, sagt Rödde.
Lösung gegen Unterrichtsausfall an Schulen: „Etwas, das wir wirklich brauchen“
Eine Lösung für das Problem bietet das gemeinnützige Start-up LifeTeachUs. Während des Unterrichtsausfalls schickt es echte Menschen in die Schulen. Die erklären den Schülerinnen und Schüler, welche Eigenschaften es für eine Ausbildung zur Tischlerin braucht und was ein Numerus Clausus ist. Sie vermitteln Grundlagen über die eigene Buchhaltung oder zeigen, wie man Prüfungsstress bewältigt. Schulen können über eine App kurz- und langfristige Anfragen stellen, die an diese LifeTeacher übermittelt werden.
„Die Grundidee zu LifeTeachUs stammt von Ludwig, der in seiner eigenen Schulzeit erlebt hat, wie viel Unterricht ausfällt und wie wenig Raum es für echtes Lebenswissen gibt“, erklärt Emily Eichenlaub von LifeTeachUs BuzzFeed News Deutschland. Das Angebot kommt an. Schulen würden berichten, dass die Stunden eine echte Entlastung schaffen. „Endlich mal etwas, das wir wirklich brauchen“ oder „Ich wusste nicht, dass ich das auch werden kann“, sei das Feedback der Schülerinnen und Schüler. (Quellen: Linkedin, Uni Göttingen, eigene Recherche)